Ich kann leider nicht in großer Ausführlichkeit antworten, da mir dazu momentan die Zeit fehlt, aber ich versuche die Kernpunkte zu benennen.
Die Kernaussage hinter der zitierten Stelle spricht Minderheiten ihren Minderheiten Status ab und entzieht ihnen jegliche Legitimation auf Misstände hinzuweisen.
Nein, das sehe ich ganz anders. Ein solches Absprechen des berechtigten (!) Minderheitenstatus sehe ich beim besten Willen nicht. Ich kann nicht erkennen, das Wagenknecht in irgendeiner Form in diesen Textauszügen Minderheiten abspräche, für ihre Rechte einzutreten. Darum geht es ihr gar nicht. Was ich hingegen hier sehe ist der Versuch, darauf aufmerksam zu machen, dass es (inzwischen) in diesem Bereich zu kritikwürdigen Übertreibungen und Überbetonungen kommt, weil diese sich sachlich ins Unverhältnismäßige gesteigert haben. Und daran üben hier Wagenknecht und an anderer Stelle viele andere ihre Kritik.
Ob gewollt oder nicht, wird mit solchen Aussagen ein ideologischer Nährboden für rechte Positionen geliefert, die von der Mitte der Gesellschaft akzeptiert werden können, denn hier werden identische Positionen der Rechten sprachlich ganz sauber und verträglich neu verpackt. Dogwhistles sollten jedem ein Begriff sein.
So ein Gesetzestext ist natürlich etwas anderes als ein Buch, aber die Methodik des Aufweichens und Abstrahieren ist die gleiche.
Auch hier bin ich anderer Ansicht. Kritikwürdige Umstände oder Fehlentwicklungen müssen sachlich angesprochen werden, auch selbst dann, wenn sie sich ebenfalls inhaltlich mit rechten Positionen partiell überlagern. Entscheidend ist hier wie überall eine sachlich klare Begründung.
Ich halte übrigens die von dir genannten Beispiele der Dogwhistles und der speziellen Wahlrechtsproblematik in Georgia nicht geeignet für einen Vergleich mit den Positionen Wagenknechts. Es sind zwei völlig unterschiedliche Themenkomplexe. Ich hege allerdings die starke Vermutung, dass Wagenknecht diese geplanten Wahlrechtsreformen in Georgia zu Ungunsten der schwarzen Bevölkerungsanteile ebenfalls heftig kritisieren würde. Wie ich übrigens auch. Auch deshalb, weil sie offensichtlich in der Sache schlecht, bzw. unglaubwürdig begründet sind. Ich würde ohne Weiteres zustimmen in der Analyse, dass es hier um den offensichtlichen Versuch geht, den politischen Einfluss der schwarzen Bevölkerung unverhältnismäßig und in ungerechter Weise zu beschränken.
Inzwischen hat die Rechte aber kaum noch Probleme von einer europäischen, sprich weißen, Identität zu reden und dabei mühelos eine Brücke von antiken griechischen Philosophen, über römischen Legionären, nordischen Wikingern, hin zu teutonischen Rittern und polnischen Flügelhusaren zu schlagen.
Kennt noch jemand diese Umzüge der Nationalsozialisten, wo sie die deutsche Geschichte mit schönen Kostümen geschmückt in Hakenkreuzsymbolik darstellten? Das ist eine ähnliche Geschichtsverballhornung.
Interessant, dass du das ansprichst. Bei Identitätspolitik fällt mir tatsächlich normalerweise eher die Rechte auf. Und ich stimme dir vorbehaltlos zu, dass rechtsextreme Kreise immer wieder versuchen, auf teils höchst fragwürdige Weise die Geschichte für sich politisch in Beschlag zu nehmen und auszuschlachten, wie es ihnen genehm ist.
Daraus allerdings nun im Umkehrschluss eine Ablehnung bzw. Negierung jeglicher europäischer, nationaler, christlicher oder abendländischer Identität abzuleiten, wie es Teile der politischen Linken im Gegenzug versuchen, halte ich für mindestens ebenso absurd und eben übertrieben. Man braucht nur an einem x-beliebigen katholischen/anglikanischen ja selbst protestantischen Gottesdienst von Polen bis Spanien, von Großbritannien bis Italien teilzunehmen, um diese kulturellen und religiösen Gemeinsamkeiten unschwer zu erkennen. Man braucht Europa nur mit Nordafrika vergleichen, um zu erkennen, dass uns Polen, Dänen, Briten, Italienr, Franzosen oder Spanier kulturell näher stehen, als dies bspw. bei Ägyptern, Marokkanern, Afghanen, Chinesen oder Saudis der Fall ist. Es gibt sie also sehr wohl, diese "europäische Identität", genauso wie es natürlich auch auf nationaler Ebene eine "deutsche Identität" gibt. Die Erfahrungen und Prägungen zweier verlorener Weltkriege sind bspw. eben typisch deutsch und waren in kaum einem anderen europäischen Land derart identitätsbildend.
Man muss also hier aufpassen, dass man nicht im Wunsch der Ablehnung des Rechtsextremismus in Übertreibung gerät, indem man nun versucht nationale oder christliche oder abendländische Identität und Geschichte per se zu negieren. Das wäre dann nämlich genau eine solche Übertreibung und hätte nichts mehr mit der Beschreibung von Wirklichkeit zu tun, sondern mit dem Postulieren einer gewünschten ideologischen Scheinwirklichkeit einer vermeintlichen Internationalen. Und so wie ich Wagenknecht verstehe, wendet sie sich exakt gegen diese Form der Übertreibungen, weil diese aus ihrer Sicht zum Scheitern der politischen Linken führen werden, da sie sich von Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen entfernt.
Zurück zu Frau Wagenknecht und der Textstelle. Da sie die Identitätspolitik als den Kern des Linksliberalismus sieht, liegt der Gedanke für Leser nun nahe, welche Identitätspolitik bereits kritisch gegenüberstehen, auch den Linksliberalismus selbst als kritisch zu betrachten, da sich dieser laut Frau Wagenknecht darüber auszeichnet.
Zunächst einmal ist es ja auch völlig legitim, ja geradezu eine Notwendigkeit, auch den Linksliberalismus kritisch zu betrachten.
Ich glaube aber abgesehen davon, dass es gar nicht so ist, wie du schreibst. Wagenknecht lehnt nicht den Linksliberalismus ab, sondern sie lehnt eine bestimmte Entwicklung im Linksliberalismus ab, der aus ihrer Sicht in die Irre führt und damit dem Linksliberalismus als Ganzem schadet, wenn sich diese Ansicht mehrheitlich durchsetzen würde, was freilich schon geschehen zu sein scheint. Wobei man ohnehin fragen muss, ob hier der Begriff LinksLIBERALISMUS überhaupt noch passend ist.
Den nächsten Satz müssen wir einmal aufsplitten, da steckt sehr viel drin.
"Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurriliere Minderheiten zu richten,[...]"
Die Steigerungen sugerrieren dem Leser, dass es eine fortlaufende Entwicklung gibt und man sich von einer Minderheitendiskussion in die nächste begiebt. Es gibt also kein Ende der Fahnenstange. Werden Minderheiten dann erfunden, wenn den Vertreter der Identitätspolitik diese ausgehen?Nein, die Minderheiten gab es schon vorher und man versucht allen eine hörbare Stimme zu geben.
Die Idee, man Suche immer wieder neue Minderheiten, wertet diese ansich schon ab und die Verwendung von einem, in diesem Zusammenhang, negativ konnotierten Adjektiv wie "skurril" entwertet Minderheiten sprachlich noch weiter und beraubt dieser damit ihrer Legitimation und Möglichkeit am politischen Diskurs teilzunehmen.
Ja. Aus meiner Sicht ist diese fortlaufende Entwicklung keine Diffamierung, wie du schreibst, sondern eine zutreffende Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dann sieht Wagenknecht, oder sehen Wagenknecht und ich, das eben anders als du. Ich nehme es nämlich schon so wahr, dass das keinesfalls nur eine Suggestion ist, sondern eine tatsächliche gesellschaftliche Entwicklung in unterschiedlichsten Bereichen beschreibt, die man durchaus kritisch hinterfragen kann, ja sogar muss. Sie stammt letztlich aus einem Bestreben des Individualismus und seiner möglichen Überbetonung in einzelnen Bereichen einhergehend mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung des Einzelnen, um als Individuum, als etwas Besonderes, wahrgenommen zu werden. Ja sie betont sogar sein RECHT darauf. Ob das gesellschaftlich wünschenswert ist, diese Frage muss erlaubt sein.
Ich möchte diesbezüglich ein relativ harmloses Beispiel nennen, um zu verdeutlichen, worum es mir geht. Das Feld der Ernährung hat sich im vergangen Jahrhundert völlig ideologisiert mit zahlreichen -ismen, die man hier "erfunden" hat und weiterhin erfindet. Inzwischen gibt es: Vegetarier, Lacto-Vegetarier, Ovo-Vegetarier, Flexitarier, Pescetarier, Frutarier, Veganer usw. usf.. Es mutet geradezu absurd an, wenn man versucht das alles aufzulisten. Ich würde hier den Begriff "Marotte" inzwischen bspw. nicht unpassend finden, auch weil ich das Ganze für ein Wohlstandsphänomen halte. Jede Ernährungsvorliebe bekommt ihr Etikett, ihre eigene kleine Schublade, mit Hilfe derer sie sich von anderen abgrenzen kann. Daraus leiten sich dann im nächsten Schritt Forderungen nach grds. Berücksichtigung ab. Wäre früher jeder einzelne selbst dafür verantwortlich gewesen, was er isst und was nicht, also eigenverantwortlich, versucht man nun daraus gesellschaftliche "Rechte" für die Gruppen der Vegetarier, Veganer usw. abzuleiten. Und zwar Rechte, die in ihren Auswirkungen nun ALLE betreffen und nicht nur einen selbst. Jede Kantine MUSS nun vegetarische Mahlzeiten immer vorrätig halten und stets mit anbieten. In Kindergarten DARF kein Schweinefleisch mehr serviert werden. usw. usf. Das sind, wenn es dazu kommt, und vielfach kommt es genau dazu, aus meiner Sicht Übertreibungen, weil hier das berechtigte Interesse des Individuums nach Selbstverwirklichung zu Lasten einer größeren Mehrheit (bspw. Kosten zusätzlicher Nahrungsmittelangebote, Einschränkung vorhandener Nahrungsmittelauswahl usw.) die daran kein Interesse hat, ja darunter ggf. sogar Nachteile erfährt, durchgesetzt werden soll, wohingegen es meiner Ansicht aber angebrachter wäre, wenn sich der Einzelne zu Gunsten des größeren Allgemeinwohl zurücknehmen und bescheiden würde, anstatt um jeden Preis auf die Durchsetzung seiner Partikularinteressen zu setzen.
Und diese Tendenz zur Separierung ist ja in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen wahrzunehmen. Im Bereich der nationalen Zugehörigkeit. Im Bereich der religiösen Zugehörigkeit. Im Bereich der sexuellen Orientierung. usw. usf.. Niemand hat etwas gegen einen Vegetarier oder Veganer, der auf bestimmte Lebensmittel verzichtet oder sich selbst sein Essen mitbringt. Aber es ist eine ganz andere Frage, ob deswegen jedes Restaurant, jede Kantine usw. usf. diese spezielle Ernährungsgewohnheit mit berücksichtigen MUSS. Ich halte genau das für eine Übertreibung. Ich denke das Ganze hängt im Zweifel sehr vom Kosten und Nutzen ab. Dass bspw. auf eine barrierefreie Bauweise und Renovierung geachtet wird, halte ich für ein absolutes MUSS. Dass man hingegen in allen öffentlichen Gebäuden zusätzliche Toiletten bauen soll, für das dritte Geschlecht, halte ich für eine Übertreibung, auch weil auf der Toilette jeder letztlich nur alleine sitzt. Ich halte es für ein Muss, dass alle Menschen ein Recht auf Gleichbehandlung haben, dass Frauen genauso in Führungspositionen kommen müssen können wie Männer usw. usf.. Ich halte es hingegen für eine Übertreibung, eine "Frauenquote" festzulegen, die festschreibt, dass jeder Vorstand mindestens so und soviel Prozent Frauen haben müsse. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn der einzelne für sich entscheidet, dass er in Sprache und Schrift gendern möchte. Es ist eine Übertreibung, wenn alle dazu, unter Androhung von Nachtteilen, verpflichtet werden sollen. Es ist die eine Sache, die Rechte von religiösen Minderheiten zu akzeptieren. Es ist etwas ganz anderes, deswegen Inhalte des Unterrichts zu streichen. Es ist die eine Sache, den Kolonialismus aufarbeiten zu wollen, es ist eine ganz andere Sache, sämtliche Erinnerungszeugnisse (Straßennamen, Denkmäler, Institutsbezeichnungen) aus dieser Zeit durch Umbenennungen oder Abriss austilgen zu wollen. Es ist eine Sache darauf zu drängen, dass Afro-Europäer stärker medial berücksichtigt werden. Es ist eine ganz andere Sache, Sendeformate zu gestalten, in denen "Weiße" nicht eingestellt und nicht als Gäste eingeladen werden.
Ich habe kürzlich bspw. ein altes Interview von Hannah Arendt mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964 gesehen und möchte es hier als Beispiel zeigen. Ab spätestens Minute 4:17 :
Mir ist dabei direkt am Anfang obige Stelle als bemerkenswert aufgefallen. Ich denke niemand mit Verstand würde bestreiten, dass Hannah Arendt eine äußerst intelligente und emanzipierte Frau war. Und natürlich muss man diese Äußerung vor dem Hintergrund der damaligen Zeit sehen. Dennoch hat Hannah Arendt auch damals schon von Feministinnen dafür Kritik erfahren. Sie hat Kritik erfahren. Man stelle sich hingegen aber einmal vor, was heute für ein Shitstorm über sie hereinbrechen würde, wenn sie eine derartige persönliche Meinung so öffentlich heutzutage äußern würde. Und genau darin sehe ich die Übertreibung, die vor allem von linker Seite betrieben wird, und die ja erklärtermaßen zum Ziel hat, derartige Meinungsäußerungen defacto mundtot zu machen, weil sie den eigenen Partikularinteressen, hier insbesondere denen der Feministinnen widerspricht. Es muss aber in einer freien Gesellschaft möglich sein, solche Meinungen vertreten zu dürfen, ohne dafür gesellschaftlich zum Paria erklärt zu werden. Heutzutage müsste sie vermutlich in Deutschland damit rechnen, dass man an der Uni ihren Lehrstuhl in Frage stellen würde usw. usf.. Und von dieser Redefreiheit bewegen wir uns leider in den letzten Jahren, nach meiner Wahrnehmung, immer weiter weg. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Und so wie ich Wagenknechts Äußerungen verstanden habe, wendet sie sich exakt gegen diese Entwicklung, die man leider in vielen Bereichen beobachten kann. Und die Art der vielfachen Reaktionen auf ihr Buch halte ich, nach meinem bisherigen Kenntnisstand des Inhalts, durchaus dann auch für übertrieben. Sie belegen im Grunde ein weiteres Mal genau das, was Wagenknecht ja kritisiert.
P.S. Einen weiteren Punkt habe ich noch vergessen, der Wagenknecht auch wichtig zu sein scheint und den ich auch der SPD vorwerfe. Die Diskussionen um Minderheitenrechte usw. führen inzwischen häufig dazu, dass andere wichtige Diskussionen, die viel mehr Menschen beträfen, dadurch dann schlichtweg nicht mehr in ausreichender Stärke und Wahrnehmbarkeit geführt werden. Wohnungsnot und steigende Mieten. Sozialabgaben. Mindestlohn. Soziale Sicherheit. Kriminalität. Bildungspolitik usw. usf.. Diese Themen werden dann gefühlt vom zeitlichen Ansatz her stiefmütterlich behandelt, obgleich sie viel mehr Menschen direkt im Alltag betreffen, während von gendergerechter Sprache usw. eben immer nur sehr wenige profitieren. Was die Frage der sinnvollen Verteilung der zeitlichen Ressourcen für die Lösung politischer Probleme und Fragestellungen aufkommen lässt. Auch wir diskutieren hier ja nun bereits seitenweise Fragen von Minderheitenpolitik. Hingegen diskutieren wir kaum oder jedenfalls nicht in vergleichbarer Tiefe Fragen von sozialer Not, gesellschaftlicher Teilhabe usw. usw.. Das wären aber doch eigentlich die Kernthemen der Linken.